Drei Fragen an ...
Drei Fragen an...
Katharina Diehl ist Professorin für Epidemiologie und Public Health an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seit acht Jahren unterstützt sie die DGSMP zunächst als Mitglied im erweiterten Vorstand und später als eine der Sprecher:innen der AG Mixed Methods. Ein besonderes Anliegen von Prof. Diehl ist die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in der DGSMP. Für den Kongress 2022 war sie für die Vergabe der DGSMP-Preise und für die Begutachtung der herausragenden Masterarbeiten und Dissertationen verantwortlich. Die DGSMP hat zum Kongress 2022, der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses sowie Zukunftszielen und Chancen für die Frauen in der Branche nachgefragt.
DGSMP: Wie hat Ihnen die diesjährige Jahrestagung der DGSMP gemeinsam mit der DGMS in Magdeburg gefallen?
KD: Die diesjährige Jahrestagung war aus meiner Sicht sehr gelungen. Ohnehin finde ich die gemeinsamen Kongresse mit der DGMS immer sehr spannend, da es ja doch viele thematische Anknüpfungspunkte zwischen den beiden Fachgesellschaften gibt. Die Organisation in Magdeburg war großartig – alle Helfenden waren hilfsbereit und vor allem sehr herzlich. Und es war einfach schön, die ganzen Kolleginnen und Kollegen endlich mal wieder „live“ zu sehen.
DGSMP: Welchen Stellenwert hat aus Ihrer Sicht die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses?
KD: Die Förderung junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist mir selbst eine Herzensangelegenheit und ich freue mich, dass die DGSMP in diesem Bereich sehr aktiv ist. Es ist schön zu sehen, dass die AG Wissenschaftlicher Nachwuchs, die ich im Jahr 2014 mitbegründet habe und die zwischenzeitlich leider ein bisschen eingeschlafen war, nun mit neuen Gesichtern und neuem Schwung wiederbelebt wurde. Natürlich braucht es da auch die Unterstützung derjenigen, die nicht mehr ganz zum Nachwuchs zählen, damit sich die AG etablieren und zielführend agieren kann. Auch die Idee des Mentorings, die nun im Rahmen der Jahrestagung aufgegriffen wurde, ist ein schöner Ansatz, um Unterstützungsmöglichkeiten zu schaffen. Und auch hier sind natürlich erfahrenere Wissenschaftler:innen gefragt, sich für diese Idee einzusetzen und als Ansprechpartner:innen und Mentor:innen zur Verfügung zu stehen.
DGSMP: Für die Auszeichnung der herausragenden Master- und Dissertationsarbeitspreisen haben sich im Jahr 2022 sehr viele junge Frauen beworben. Wie schätzen Sie die Lage für die Frauen in Ihrer Branche ein?
KD: Ich denke, es ist ein positives Zeichen für alle jungen Frauen in unserem Forschungsbereich, dass in diesem Jahr alle vier Preise an Nachwuchswissenschaftlerinnen verliehen wurden. Aber man muss sagen, dass alle Bewerberinnen und Bewerber hervorragende Abschlussarbeiten eingereicht haben, und ich finde es toll, dass die DGSMP mit diesen Preisen junge Menschen fördert. Daher war es mir auch eine Freude, die Vergabe der Preise in diesem Jahr zu koordinieren. Insgesamt glaube ich, dass wir in der DGSMP ohnehin viele starke Frauen haben. Und da wir uns aktuell über viel weiblichen Nachwuchs freuen können, wird unser Fachbereich hoffentlich mittelfristig dazu beitragen können, die Schere, die sich zwischen Frauen und Männern über die Karrierestufen in der Wissenschaft hinweg öffnet, zu schließen.
Interview führte Mariya Ahner am 30.09.2022 per E-Mail
Michael Laxy ist Mitglied der DGSMP und Professor für Public Health und Prävention an der TU München, Adjunct Professor für Global Health an der Emory University – Rollins School of Public Health sowie Arbeitsgruppenleiter am Institut für Gesundheitsökonomie am Helmholtz Zentrum München. Zusammen mit Dr. Dominik Röding gründete er 2022 die AG „Methoden der Evaluation von komplexen Interventionen und Politikmaßnahmen“ in der DGSMP.
DGSMP: Professor Laxy, was waren Ihre Beweggründe, Mitglied der DGSMP zu werden?
ML: Das Leitbild der DGSMP, die Gesundheit der Bevölkerung durch interdisziplinäre Forschung und intersektorale Ansätze, unter Berücksichtigung der Dimensionen Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit und Verteilungsgerechtigkeit, zu verbessern, gefällt mir sehr gut und ist im Kern auch Ausgangspunkt meiner Forschungsaktivitäten. Zudem finde ich die Fokussierung auf die Vernetzung von Forschung und Praxis sowie die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses sehr wichtig. Mit der Bildung der neuen AG Methoden der Evaluation von komplexen Interventionen und Politikmaßnahmen hat sich nun eine konkrete Möglichkeit zur Mitgliedschaft eröffnet und ich freue mich auf den Austausch und eine gute Zusammenarbeit mit den Kolleginnen/en der DGSMP.
DGSMP: Was versteht man unter den komplexen Interventionen im Bereich der Gesundheitsversorgung und Prävention?
ML: Generell kann man eigentlich davon ausgehen, dass die allermeisten Interventionen im Bereich der Sozialmedizin, Prävention und Public Health „komplexe Interventionen“ sind. „Komplexität“ kann hier verschiedene Dimensionen haben. Häufig genannte Charakteristika von komplexen Interventionen sind sich wechselseitig bedingende Interventionskomponenten, die Bandbreite adressierter Verhaltensweisen oder der Grad der Flexibilität bei der Implementation der Intervention. Eine sehr wichtige Komponente bei der Beurteilung der Komplexität einer Intervention ist auch die Interaktion von Intervention und Kontext, sowie die vielschichtigen – auch nicht intendierten – Wirkungsmechanismen. Da komplexe Interventionen zumeist auf komplexe Systeme treffen, die durch Feedback, Adaptions- und Selbstorganisations-vorgänge charakterisiert sind, sind auch nichtlineare Prozesse und Wirkmechanismen zu erwarten und zu berücksichtigen.
Darüber hinaus sind aber auch Politikmaßnahmen, welche nicht dem klassischen Komplexitätsverständnis entsprechen, schwierig zu evaluieren und auch deren Evaluation steht im Fokus der Arbeit unserer AG.
DGSMP: Welches Ziel verfolgt die neu gegründete AG?
ML: Für die Wirksamkeitsevaluation von komplexen Interventionen und Politikmaßnahmen können meist keine klassisch experimentellen Designs angewendet werden. Dies stellt die Evaluationsforschung bis heute vor methodische Herausforderungen. Der Fokus der AG liegt deswegen auf dem Austausch zu Best-Practice-Vorgehen in der Anwendung empirischer Methoden zur Wirksamkeitsevaluation von Public-Health-Interventionen unter Berücksichtigung von Kontextfaktoren und System-Komplexität. Die Anwendung quasi-experimenteller Designs, mit deren Hilfe sich auch ohne eine forscherseitige Randomisierung valide Wirksamkeitsevaluationen durchführen lassen, wird ein explizierter Schwerpunkt der AG sein. Wir wollen uns aber auch mit der Integration von qualitativen Forschungsansätzen im Sinne von „Mixed-Method-Forschung“ beschäftigen. Diese helfen z.B. zu verstehen, welche Interventionsattribute oder welche kontextuellen Voraussetzungen für den nachhaltigen Erfolg einer komplexen Intervention relevant sind. Ferner wollen wir an methodischen Standards arbeiten – z.B. inwieweit durch die Prä-Registrierung von Evaluationsstudien, die Entwicklung und Anwendung von logischen Modellen zur Abbildung der Programmtheorie und die Einbeziehung von Stakeholdern im Sinne der partizipatorischen Forschung die Transparenz, Replizierbarkeit und Relevanz der zu generierenden Evidenz optimiert werden kann. Diese Aspekte sind wichtig, um das Vertrauen von Entscheidungsträgern und der Zivilbevölkerung in Forschungsergebnisse aus Public Health und Gesundheitsförderung weiter zu stärken. Ein explizites Ziel ist auch die Dissemination dieser Methoden über regelmäßige Workshops und AG- und fachgesellschaftsübergreifende Aktivitäten.
Interview führte Mariya Ahner am 25.05.2022 per E-Mail
Dr. Tatiana Görig ist seit sechs Jahren Mitglied der DGSMP und Mitarbeiterin an der Professur für Epidemiologie und Public Health an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Die DGSMP hat bei Frau Dr. Görig nach ihren ukrainischen Wurzeln sowie zur Auswirkung des zurzeit geführten Krieges Russlands gegen die Ukraine auf die Gesundheit der Menschen in Europa nachgefragt.
DGSMP: Liebe Frau Dr. Görig, Ihre familiären Wurzeln reichen bis in die Ukraine, das Land, das zurzeit von Russland angegriffen wird. Ein Teil Ihrer Verwandtschaft lebt in und um Winnyzja, ca. 300 km entfernt von der umkämpften Hauptstand Kiew. Wie geht es Ihren Familienangehörigen?
TG: Meine Tante und vier meiner Cousins mit ihren Familien leben nahe der Grenze zu Moldau. Dieses Gebiet ist von russischen Angriffen noch nicht direkt betroffen. Indirekte Auswirkungen des Krieges sind dort bereits seit den ersten Tagen spürbar. Mein Cousin berichtet davon, dass der Unterricht in den Schulen und Berufsschulen eingestellt bzw. unterbrochen wurde. So wie viele andere kann er seit einem Monat nicht zur Arbeit gehen, da Rohstoffe für die Produktion nicht geliefert werden. Die Lebensmittel werden knapp und die Preise immer höher. Seit kurzer Zeit kommen dort auch Geflüchtete aus den ukrainischen Gebieten im Osten an. Meine Verwandten sind froh, dass bei ihnen „noch nicht bombardiert wird“, die Angst ist aber groß und natürlich auch die Hoffnung, dass dieser Krieg bald vorbei ist.
Ich teile diese Hoffnung auch. Ich bezeichne mich manchmal als Deutsche mit ukrainischen Wurzeln, die in Kirgisistan mit Russisch als Muttersprache groß geworden ist. Angesichts meines recht „bunten“ Hintergrunds kann und möchte ich nicht akzeptieren, dass im XXI. Jahrhundert ein Staat die Souveränität eines anderen verletzt und Millionen von Menschen so viel Leid zufügt.
DGSMP: Wie beurteilen Sie die Gesundheitsversorgung in der Ukraine zurzeit?
TG: Die militärischen Angriffe bringen vielen Menschen in der Ukraine ein unmittelbares körperliches und seelisches Leid. Vielen kostete der Krieg ihr Leben. Es ist bekannt, dass durch die Angriffe zahlreiche Krankenhäuser und andere Einrichtungen der medizinischen Gesundheitsversorgung beschädigt bzw. zerstört wurden. Ich denke, wir alle kennen Berichte von ukrainischen Ärzt:innen, die ihre Patient:innen in improvisierten Räumen in Gebäudekellern versorgen müssen. Es mangelt dort an vielen medizinischen Gütern, z. B. Geräten, Medikamenten, Material zur Wundversorgung. Auch die Lebensmittelversorgung gestaltet sich zunehmend schwieriger, was weitere negative Auswirkungen auf den allgemeinen gesundheitlichen Zustand der Menschen dort hat. In diesem Zusammenhang sprach die EU von einer humanitären Krise in der Ukraine. Wir wissen nicht, wie viele traumatisierte bzw. verletzte Menschen aufgrund der zerstörten Infrastruktur in umkämpften Gebieten die medizinische Hilfe, die sie dringend benötigen, nicht erhalten können.
Ergänzend zu diesen Aspekten, die uns hier in Deutschland aus der medialen Berichterstattung bekannt sind, weiß ich aus Berichten meiner Verwandtschaft in einem noch nicht umkämpften Gebiet, dass die geplanten medizinischen Eingriffe auf unbestimmte Zeit verlegt werden. In den Apotheken fehlen Medikamente, was besonders für Menschen mit chronischen Erkrankungen sehr problematisch ist.
Ich denke, die Auswirkungen dieses Krieges auf die Gesundheitsversorgung in der Ukraine werden noch viele Jahre nach seinem Ende spürbar sein und die Menschen, das Land, aber auch die Weltgemeinschaft beschäftigen. Denn nach dem Krieg müssen die zerstörten Einrichtungen und die Infrastruktur wieder aufgebaut werden. Ebenso werden viele Menschen, die durch die Kriegsereignisse, durch Tod, durch Verlust ihrer Existenzen oder durch die Flucht traumatisiert sind, langfristige psychosoziale Hilfe benötigen. Das wird Kinder genauso betreffen wie Erwachsene.
DGSMP: Welche Auswirkung hat der Krieg in der Ukraine aus Ihrer Sicht auf das demokratische Denken in Europa?
TG: Als Public-Health Wissenschaftlerin traue ich mir kein objektives Urteil zu diesem Thema zu. Meine subjektive Sichtweise ist, dass der Angriff auf die Ukraine auch ein Angriff auf zentrale demokratische Werte Rechtsstaatlichkeit, nationale Souveränität und Freiheit ist. Es ist ein Angriff auf unsere liberale demokratische Ordnung. Deshalb freut es mich zu sehen, dass sich Europa entschieden und größtenteils geschlossen gegen diesen Krieg und an die Seite der Ukraine stellt. Ich würde mir wünschen, dass eine Rückbesinnung auf unsere demokratischen Werte eine der Auswirkungen dieses Krieges ist, was insbesondere angesichts des Erstarkens rechtspopulistischer Kräfte in Europa von hoher Bedeutung ist.
Interview führte Mariya Ahner am 27.03.2022 per E-Mail
Prof. Dr. Raimund Geene ist Mitglied der DGSMP und einer der Sprecher der AG Kindergesundheit – Kinder und Jugendliche in der DGSMP. Prof. Geene ist Professor für Gesundheitsförderung und Prävention mit dem Schwerpunkt auf kommunale Ansätze an der Alice Salomon Hochschule Berlin.
DGSMP: Professor Geene, in letzter Zeit häufen sich Medienberichte über psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Inwieweit hat die Corona-Pandemie damit zu tun?
RG: Die Corona-Pandemie hat die Lebensverhältnisse aller Menschen stark beeinträchtigt. Bei Kindern, deren Erfahrungshorizont so viel kürzer ist als bei Erwachsenen, stellt sich dies besonders dramatisch dar: Während der zweijährige Ausnahmezustand für eine*n 40jährigen Erwachsene*n lediglich einen Teil seiner Lebenseindrücke bestimmt, bedeutet der Zeitraum für eine*n Sechsjährige*n schon die Hälfte oder mehr seines Erinnerungsvermögens. Noch dramatischer stellt sich dies möglicherweise für Kleinkinder, die in die Pandemie hineingeboren sind, und denen der Austausch mit anderen Kindern in ihrer vorsprachlichen Entwicklung verwehrt worden ist.
DGSMP: Warum ist die gerade für Kleinkinder relevant?
RG: Im Kleinkindalter sprechen wir von Entwicklungsfenstern, in denen grundlegende Lebensfunktionen erworben werden, etwa das Sehen-Lernen, das Elementarvertrauen durch Bindungsaufbau oder auch die intuitive Erfassung von Gleichaltrigen. Wer jemals einen PeKiP-Kurs besucht und die Begeisterung von Babys für andere Babys erlebt hat, weiß um die herausragende Peerbedeutung schon in dieser Lebensphase.
DGSMP: Welchen Beitrag kann Gesundheitsförderung leisten, um solchen drohenden Defiziten entgegenzuwirken?
RG: Nicht nur die Kinder selber, sondern auch die betreuenden Fachkräfte in Familienzentren, Kitas und Schulen sind durch die Präventionspolitik der vergangenen beiden Jahre stark belastet. Sie fühlen sich entmündigt und müssen „von oben“ bestimmte Maßnahmen umsetzen, die ihnen mitunter nicht einsichtig sind. Gesundheitsförderung braucht aber Partizipation, also Fachkräfte, die den Kindern Selbstwirksamkeitserfahrungen vermitteln, weil sie sich auch selber in ihrer täglichen Arbeit als wirksam, als relevant erleben. Hier hat der Rückfall in Old Public Health dem modernen Ansatz der Gesundheitsförderung – also New Public Health – erheblich geschadet. Es ist um so wichtiger, dass aktuelle Herausforderungen – sei es Klimawandel, Kriegsängste, Migration oder Armut – in Programmen zur Gesundheitsförderung in den Lebenswelten von Fachkräften, Eltern, Kinder und Jugendlichen gemeinsam und selbstbestimmt gestaltet werden.
Interview führte Mariya Ahner am 28.02.2022 per E-Mail
Prof. Dr. med. Wolfram Herrmann ist seit Januar 2022 neues Mitglied der DGSMP und Sprecher der AG Sexuelle und geschlechtliche Diversität. Prof. Herrmann hat eine Professur für Allgemeinmedizin mit Schwerpunkt Versorgungsforschung an der Universitätsmedizin Charité.
DGSMP: Professor Herrmann, wie aktuell ist das Thema sexuelle Diversität aus Ihrer Sicht im öffentlichen Leben Deutschlands?
WH: Das Thema ist vor allem in der jüngeren Generation gerade sehr aktuell. Wie man in den Medien immer wieder sieht, gibt es auch in der Breite gesellschaftliche Diskussionen zu sexueller und geschlechtlicher Diversität. Besonders sichtbar – und auch umstritten – sind dabei Diskussionen zu sprachlichen Aspekten wie dem sogenannten Gendersternchen; andere Themen wie beispielsweise Diskriminierung im Alltag und Aspekte der Gesundheitsversorgung gehen dabei etwas unter. So zeigte eine Studie unter meiner Leitung, dass LGBTIA* Personen während Social Distancing Maßnahmen deutlich stärker von Einsamkeit betroffen waren, medial stieß dies jedoch auf wenig Resonanz.
DGSMP: Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist Versorgungsforschung. Wie stark leidet die Gesundheitsversorgung in Deutschland unter der Corona-Pandemie?
WH: Die ambulante Gesundheitsversorgung leidet stark unter der Corona-Pandemie, das merken wir täglich in unserem Institut. Die Corona-Pandemie hat den gesellschaftlichen Blick auf die Gesundheitsversorgung gerichtet. Die Bedeutung der hausärztlichen Versorgung für die öffentliche Gesundheit wurde nun sehr deutlich, und genau hier zeigen sich auch die Schwachstellen unseres Gesundheitssystems: Sowohl die hausärztliche Versorgung als auch die Zusammenarbeit von hausärztlicher Versorgung und ÖGD sind mehr als ausbaufähig.
In der hausärztlichen Versorgung zeigt sich darüber hinaus noch einmal deutlicher als bisher schon die Bedeutung psychosozialer Aspekte für Gesundheit. Psychosoziale Rahmenbedingungen spielen eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Erkrankung aber auch als Folge von Erkrankungen. Dieses Wechselspiel werden wir zukünftig deutlich stärker in den Fokus nehmen müssen, sowohl in der Forschung als auch in der Versorgung; hier benötigen wir praktikable Ansätze, um die Versorgung zu verbessern. Nehmen wir als Beispiel die bereits erwähnte erhöhte Einsamkeit von LGBTIA* Personen, hier sollten Hausärzt*innen gezielt LGBTIA* Patient*innen nach Einsamkeit fragen; neue Ansätze wie Social Prescribing könnten dann effektive Maßnahmen gegen Einsamkeit sein.
In den letzten zwei Jahren stand die intensivmedizinische Versorgung im Fokus des Interesses, und wir sehen die Bedeutung spezialisierter Maximalversorgung. Gleichzeitig zeigt sich, dass dies nur funktioniert, wenn die Primärversorgung qualitativ gut und breit aufgestellt ist. Bisher tun wir jedoch zu wenig für eine gemeindenahe, qualitativ hochwertige Primärversorgung. Mein Interesse gilt dabei vor allem der Gesundheitsversorgung in der Stadt, Urban Primary Care. Hier könnten interdisziplinäre Stadtteilpraxen mit einer größeren Anzahl Hausärzt*innen, die u.a. zusammen mit Pflegekräften und Sozialarbeiter*innen die Menschen versorgen, ein Modell für die Zukunft sein. Dies erfordert aber ein Umdenken weg von der klassischen selbstständigen Einzelpraxis – hier müssen wir aus meiner Sicht ein bisschen mehr Out of the Box denken und wirklich neue Modelle erproben.
DGSMP: Wie sieht die Tätigkeit einer Arbeitsgruppe wie Sexuelle Diversität aus? Welche Ziele bzw. Ergebnisse erhoffen Sie sich längerfristig?
WH: Die Arbeitsgruppe ist vor allem ein Netzwerk, welches Akteure mit ganz unterschiedlichen Hintergründen zusammenbringt. Eine Unterarbeitsgruppe beschäftigt sich beispielsweise mit Methoden in der Erforschung sexueller und geschlechtlicher Diversität in Gesundheitsforschung- und versorgung. Jedes Semester werden in der Gruppe beispielhafte Forschungsprojekte gemeinsam diskutiert.
Insgesamt hat unsere Arbeit schon durch die Coronapandemie gelitten, einerseits weil ein persönliches Netzwerktreffen nicht mehr möglich war, andererseits weil unsere Mitglieder beruflich durch die Pandemie auch zusätzlich belastet waren. Wir werden uns nun im März online treffen, um die kommenden zwei Jahre zu planen; im Herbst ist dann hoffentlich wieder ein persönliches Netzwerktreffen möglich. Langfristig geht es uns darum, gemeinsam inter- und transdisziplinär die Gesundheitsforschung und Gesundheitsversorgung hinsichtlich sexueller und geschlechtlicher Diversität zu verbessern.
Interview führte Mariya Ahner am 24.01.2022 per E-Mail
Dennis Jepsen (M.A.) studierte Therapeutische Soziale Arbeit an der Hochschule Nordhausen und arbeitet seit Mitte 2021 am Institut für Medizinische Soziologie der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg.
DGSMP: Lieber Herr Jepsen, herzlichen Glückwunsch zum Masterarbeitspreis der DGSMP 2021. Sie haben zum Thema “Hypersexuelles Verhalten bei jungen Erwachsenen – Ausdrucksformen sexueller Süchte und Persönlichkeits-korrelate” geforscht. Was ist Hypersexualität und wie oft tritt dieses Verhalten zu Tage? Wie schwer war es, zu diesem Thema zu forschen?
DJ: Liebe Frau Ahner, an dieser Stelle möchte ich mich noch einmal für diese Ehrung der DGSMP bedanken, die mich für meinen weiteren Weg sehr motiviert und inspiriert!
Hypersexualität bezeichnet zunächst ein quantitativ über dem Durchschnitt befindliches Sexualverhalten und ist damit nicht per se als gesundheitsschädigend einzuschätzen. Relevanz für Akteur:innen der psychosozialen Versorgung erreicht hypersexuelles Verhalten, wenn es zur Vernachlässigung wichtiger Personen oder Ziele führt, als Bewältigungsstrategie für individuelle Probleme verwendet wird oder in subjektiven Leidensdruck resultiert. Kommt es zu genannten Konflikten, spricht man von Sexsucht, exzessivem Sexualverhalten oder hypersexuellem Verhalten mit Störungscharakter.
Laut Expert:innenschätzungen liegt dieses Störungsbild bei 1-6% der Allgemeinbevölkerung vor. Allerdings liegen keine Daten zu hypersexuellem Verhalten speziell bei jungen Menschen vor, was mich u.a. dazu bewogen hat, dieses Thema genauer zu untersuchen.
Tatsächlich habe ich zu Beginn meiner Arbeit festgestellt, dass die Beforschung hypersexuellen Verhaltens einige Schwierigkeiten mit sich bringen kann. Zunächst lässt sich die Frage, wie viel Sex zu viel ist, aufgrund vielfältiger individueller Definitionen einer gesunden Sexualität, nicht pauschal beantworten. Innerhalb meiner Recherchen konnte ich jedoch schnell feststellen, dass in den letzten Jahren Diagnosekriterien und Messinstrumente entwickelt und validiert wurden, die eine moderne, individuumsbezogene Perspektive auf Hypersexualität erlauben und sehr hilfreich für meine Datenerhebung waren.
Anfänglich hatte ich die Befürchtung, es würden sich nicht genügend Teilnehmende finden, die sich trauen, offen über ihre Sexualität und psychosoziale Problemlagen zu sprechen. Schließlich handelt es sich hierbei um ein sehr intimes Thema. Dass sich trotzdem zahlreiche Teilnehmer:innen für die Studie finden ließen, kann ich mir dadurch erklären, dass Sexualität einen wichtigen Teil des Lebens der meisten Menschen ausmacht und daher auch großes Interesse hervorruft.
DGSMP: Sie sind vor kurzen der DGSMP beigetreten und vertreten die junge Generation der Mitglieder. Wie kann die Fachgesellschaft Sie auf Ihrem beruflichen Wege unterstützen?
DJ: Die DGSMP steht für mich insbesondere für Interdisziplinarität im Bereich der Sozialmedizin und der psychosozialen Versorgung. Ich freue mich daher besonders auf einen vielfältigen und anregenden Austausch sowie interessante Perspektiven. Die sozialpsychiatrische und sozialtherapeutische Versorgung (welche mir besonders am Herzen liegt) wird in den kommenden Jahren zudem mit einigen Herausforderungen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene konfrontiert sein – ich denke da z.B. an Themen wie Digitalisierung, Individualisierung oder auch den Klimawandel.
Mit diesen Problematiken wird sich insbesondere in den Arbeitsgruppen der DGSMP auseinandergesetzt, während sie an anderer Stelle kaum Beachtung finden. Die DGSMP steht daher für mich in gewisser Weise auch für Innovation und Wandel in der psychosozialen Versorgung und ich denke, dass ich durch mein Mitwirken und den Austausch sehr viel lernen und meinen Horizont erweitern kann.
DGSMP: Wie hat sich das Corona-Geschehen auf Ihr Studium ausgewirkt? Wie macht sich die Pandemie im Leben als angehender Akademiker bemerkbar?
DJ: Die Umstellung auf die Online-Lehre war zwar notwendig, hatte aber natürlich einen enormen Einfluss auf die sozialen Aspekte des Studiums. Es war schwieriger Kontakte zu knüpfen und gemeinsam an Projekten zu arbeiten und vom Studierendenleben brauche ich wohl nicht anzufangen. Ich denke aber, trotz der Pandemie, gut durch das Studium gekommen zu sein.
Einen angenehmen Start an meiner Arbeitsstelle, dem Institut für Medizinische Soziologie der MLU Halle, hatte ich auch – also, was will man mehr. Dafür bin ich sehr dankbar, denn ich bin mir sicher, dass es nicht jeder bzw. jedem so erging. Natürlich freue ich mich aber darauf, wenn Meetings, Kongresse und andere Möglichkeiten zur Vernetzung und zum Austausch wieder in Präsenz stattfinden.
Interview führte Mariya Ahner am 19.12.2021 per E-Mail
Dr. rer. med. Andreas Staudt ist der Preisträger des Dissertationspreises der DGSMP im Jahr 2021. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin der TU Dresden im Forschungsbereich „Präventive Versorgungsforschung“.
DGSMP: Lieber Herr Dr. Staudt, herzlichen Glückwunsch zum Dissertationspreis der DGSMP 2021. Das Thema Ihrer Arbeit war „Screening for at-risk alcohol use: The challenge of temporal changes in alcohol consumption”. Würden Sie eine wichtige Erkenntnis Ihrer Studie mit uns teilen?
AS: An dieser Stelle möchte ich mich nochmals herzlich bei der DGSMP und ihrem gesamten Vorstand für die Auszeichnung bedanken. In meiner Dissertation konnte ich unter anderem zeigen, dass der Alkoholkonsum in der Bevölkerung deutlichen Schwankungen unterworfen sein kann. So waren bei jeder dritten Person Fluktuationen über die Zeit hinweg beobachtbar, sowohl innerhalb von 12 Monaten als auch innerhalb einer kürzeren Zeitspanne von 4 Wochen. Diese zeitlichen Veränderungen können die Validität des Screenings auf riskanten Alkoholkonsum beeinträchtigen, da dieses in der Regel auf der einmaligen Erfassung des typischen Alkoholkonsums einer Person beruht. Durch die Arbeit wurde deutlich, dass es bei der Risikobewertung als auch bei der Entscheidung, ob einer Person eine Intervention (z.B. ein motivierendes Beratungsgespräch) angeboten werden soll, wichtig ist die zeitlichen Schwankungen des Konsums zu berücksichtigen.
DGSMP: Warum haben Sie sich für die Mitgliedschaft in der DGSMP entschieden? Was wünschen Sie sich von der Fachgesellschaft für die Zukunft?
AS: Für eine Mitgliedschaft in der DGSMP habe ich mich entschieden, weil ich davon überzeugt bin, dass das Ziel der Erhaltung und Förderung der Gesundheit in unserer Gesellschaft nur durch die Zusammenarbeit von Beteiligten verschiedenster Fachrichtungen erreicht werden kann. Als Psychologe und jetzt auch DGSMP-Mitglied möchte ich meinen Beitrag dazu leisten. Für die Zukunft erhoffe ich mir, dass die Fachgesellschaft sich weiterhin gemäß ihrem Leitbild dafür einsetzt, dass die sozialen Determinanten von Gesundheit und Krankheit im politischen und wissenschaftlichen Diskurs thematisiert werden. Ich freue mich auf einen bereichernden Austausch und anregende Diskussionen, z.B. auf der nächsten Jahrestagung 2022.
DGSMP: Die Corona-Situation verschärft sich zurzeit. Welche Rolle spielt die Sozialmedizin Ihrer Meinung nach bei der Bekämpfung der Pandemie?
AS: Mit Blick auf die Infektions- und Impfquote wird mit jedem Tag deutlich, dass uns leider kein normaler Winter bevorsteht. Wir müssen zudem davon ausgehen, dass sich der soziale Gradient in unserer Gesellschaft auch in den Folgen der COVID-19 Pandemie niederschlagen wird. Bei der Sterblichkeit aufgrund von COVID-19 ist dies laut Zahlen des Robert Koch-Instituts bereits der Fall. Soziale Deprivation geht aber nicht nur mit einem materiellen Mangel, sondern auch mit einer geringeren Resilienz gegenüber den direkten (Ansteckung im privaten und beruflichen Kontext) und indirekten Auswirkungen (Einkommenseinbußen, Gesundheitsverhalten, soziale Isolation, Umgang mit Fehl- und Desinformation) von COVID-19 einher. Diese Belastungen können wiederum die soziale Ungleichheit im Hinblick auf chronische Erkrankungen und die psychische Gesundheit vergrößern. Diese sozialen Verwerfungen zu beleuchten und Wege zu finden diese abzufedern, darin sehe ich den Beitrag der Sozialmedizin bei der Bewältigung der COVID-19 Pandemie.
Interview führte Mariya Ahner am 12.11.2021 per E-Mail
Dr. PH Katherina Heinrichs ist die Preisträgerin des Dissertationspreises der DGSMP im Jahr 2020. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin.
DGSMP: Liebe Frau Heinrichs, herzlichen Glückwunsch zum Dissertationspreis der DGSMP 2020. Ihr Thema hieß „Psychosoziale Arbeitsbedingungen und Asthma am Arbeitsplatz: eine Mixed-Methods-Studie zu Selbstmanagement, Morbidität und subjektiver Prognose der Erwerbsfähigkeit“. Würden Sie eine wichtige Erkenntnis Ihrer Studie mit uns teilen?
KH: Vielen Dank für die Glückwünsche und den Preis. In meinem Dissertationsprojekt habe ich gefunden, dass psychosoziale Arbeitsbedingungen in Zusammenhang stehen mit der Möglichkeit, bedarfsgerechtes Asthma-Selbstmanagement am Arbeitsplatz umzusetzen. Weiterhin gab es Zusammenhänge mit der subjektiven Überzeugung, langfristig erwerbsfähig zu bleiben, mit der asthmaspezifischen Lebensqualität und mit der Symptomschwere. Dies wurde in einer explorativen Mixed-Methods-Studie an der Universität Düsseldorf untersucht. Zuerst befragte ich Erwerbstätige mit Asthma zu ihrem Selbstmanagement am Arbeitsplatz, und dann schloss sich eine Fragebogenstudie an. Dieses Design, erdacht von meinem Betreuer Prof. Adrian Loerbroks, hat unfassbar gut funktioniert und mir viele Freiheiten und Lernmöglichkeiten geboten.
Aber was bedeuten diese Erkenntnisse für Betroffene mit anderen Erkrankungen? Natürlich lassen sich die Ergebnisse dieser Studie nicht direkt auf Erwerbstätige mit anderen chronischen Krankheiten übertragen, aber ich denke, dass manche Erkenntnisse trotzdem nicht nur für Betroffene mit Asthma relevant sind, sondern für viele Patient:innen mit chronischen Krankheiten. Wir sollten noch intensiver auf eine Entstigmatisierung hinwirken, vor allem nicht sichtbarer Erkrankungen, was auch psychische Störungen einschließt. Unternehmen sollten die Gesundheitsorientierung nicht aus dem Fokus verlieren und die Rolle ihrer Betriebsärzte und -ärztinnen stärken. Eine engere Vernetzung von Betrieb und Rehabilitationseinrichtung wäre wünschenswert. Nicht zuletzt stellen Return-to-Work-Schulungen für Rehabilitand:innen eine Maßnahme dar, mit der die Erwerbstätigen auf Gespräche im Unternehmen vorbereitet werden könnten, um effektives Job Crafting zu betreiben – also die Anpassung der Arbeitsbedingungen an die eigenen Bedürfnisse.
DGSMP: Seit April 2020 arbeiten Sie an der Charité Berlin als Post-Doc am Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft. Was macht Ihre Arbeit aus?
KH: Mit dem Wechsel an die Charité – Universitätsmedizin Berlin bin ich neben der wissenschaftlichen Arbeit in weitere Bereiche eingebunden, vor allem in die Lehre im Bachelorstudiengang Gesundheits-wissenschaften, die mir große Freude bereitet, sowie in die Arbeit der Promotionskommission. Meinen Fokus lege ich stärker auf die psychische Gesundheit und Gesundheitskompetenz. Außerdem war es mir stets ein Anliegen, Gesundheitsförderung und Prävention möglichst früh im Leben zu betreiben, weshalb ich mich in der Arbeitsgruppe um Prof. Christiane Stock auf junge Menschen fokussiere, z. B. Studierende und ihr psychisches Wohlbefinden.
DGSMP: Was würden Sie sich von der neuen Bundesregierung mit dem Blick auf die Gesundheitsversorgung in Deutschland wünschen?
KH: Wenn ich drei Wünsche frei hätte, wäre das erstens die Einführung einer Bürgerversicherung, damit das Solidarprinzip in unserer Gesellschaft besser umgesetzt wird. Die elektronische Patientenakte ist auf den Weg gebracht und sollte meiner Ansicht nach zügig, einheitlich und natürlich datensicher realisiert werden, um eine integrierte und ganzheitliche Versorgung zu gewährleisten. Das erfordert eine zuverlässige Infrastruktur im Rahmen der vieldiskutierten Digitalisierung unseres Landes. Last but not least hoffe ich auf eine schnelle Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 zum selbstbestimmten Sterben – ein schwieriges Thema, das mir seit meiner Tätigkeit in der Suizidprävention aber sehr am Herzen liegt.
Interview führte Mariya Ahner am 28.09.2021 per E-Mail